Welche Rolle Sport bei Essstörungen spielt
Erschienen im body LIFE Magazin; www.bodylife.com
Fast jeder zweite Patient mit einer Essstörung treibt in einer problematischen Art und Weise Sport. Egal ob Laufen, Radfahren oder Schwimmen: Menschen, die an Magersucht oder Bulimie leiden, setzen Sport ein, um gezielt ihr Gewicht oder ihre Figur zu beeinflussen. Daher ist es von größter Bedeutung, den Betroffenen zu vermitteln, wie sie ihren Körper bewusster wahrnehmen und wieder Freude an Bewegung empfinden können.
Restriktive Diäten, chronisches Diäthalten, häufige Gewichtsschwankungen, Fasten, passive Dehydration durch Sauna oder heiße Bäder, aktive Dehydration durch das Tragen von speziellen Trainingsanzügen, Verwendung von Laxantien und Diuretika – all dies kann in vielen Fällen in eine Essstörung münden. Binge-Eating-Störung, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Anorexia athletica, Exercise-Bulimie, Sport-Bulimie und Workout-Bulimie sind unterschiedliche Erscheinungen von Essstörungen; sie zählen zu den psychischen Erkrankungen und gehen mit einer hohen Mortalität einher. Sie entstehen durch das Zusammenwirken biologischer, persönlichkeitsbedingter, sozialer und psychologischer Faktoren. Im Leistungssport gehören sie zu den häufigsten psychischen Problemen. Demgegenüber steht die Orthorexia nervosa: eine gesundheitsbewusste Einstellung, die schnell durch Fixierung auf eine übertrieben gesunde Ernährung pathologisch werden kann. Diäten werden dann restriktiv eingehalten, schnell zu restriktiv. Viele Nahrungsmittel, die als ungesund eingestuft werden, werden von Betroffenen akribisch gemieden. Hinzu kommt dann nicht selten die soziale Isolation.
Das Übertrainingssyndrom und Sportsucht stehen bezüglich der Essstörungen in engem Kontext mit dem Leistungssport. Sportler in ästhetischen, körperbetonten, gewichtsabhängigen Sportarten und Ausdauersportarten sind davon häufiger betroffen als Sportler in Sportarten, in denen Gestalt und Gewicht eine weniger bedeutende Rolle spielen. Jedoch kann auch der Leistungssport selbst Ausdruck einer bestehenden Essstörung sein.
Anorexia athletica:
Störung des Essverhaltens, die bei Leistungssportlern auftritt; hauptsächlich in Sportarten, in denen ein geringes Gewicht einen Leistungsvorteil bringt. Kennzeichnend ist eine bewusste Gewichtsreduktion, die nicht dem physischen Bedarf an Kalorienzufuhr im Sport entspricht, mit der Absicht die sportliche Leistung zu steigern. Für Anorexia athletica lassen sich keine Kriterien nach ICD-10 oder DSM-IV finden, da es formell gesehen keine Krankheit ist. Bei Betroffenen kann ein erhöhtes Risiko, in das Krankheitsbild der Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa abzurutschen, beobachtet werden.
Quelle: flexikon.doccheck.com
Wie kann nun gerade der Sport bei Essstörungen Hilfe bieten?
Die psychisch Erkrankten fühlen sich ständig unter Druck, schlank sein zu müssen. Der reelle Blick für den eigenen Körper und das Körpergewicht ist gestört. Obwohl man mager ist, denkt man, unförmig und übergewichtig zu sein. Dieses dauernde Gefühl wird durch sportliches Training sogar noch verstärkt. Dieser Stimmungsabfall treibt Essgestörte zum Sport an. Demgegenüber gehen Menschen mit einem „normalen“ Essverhalten vor allem dann zum Sport, wenn sie sich vital und gesund fühlen. Direkt nach einer Trainingseinheit allerdings fühlen sich Essgestörte zumindest für kurze Zeit entspannter und weniger unter Druck, schlank sein zu müssen. Sie zeigen eine verminderte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, fühlen sich also weniger gepei- nigt durch das eigene Körpergewicht. Der Schlankheitsdruck hat für einen kurzen Moment Pause. In diesem Zusammenhang hilft die körperliche Aktivität dabei, mit negativen Gefühlen und Gedanken besser fertig zu werden. Minderwertigkeitsgefühle bezüglich des Körpers erscheinen geringer.
Allerdings ist dies ein schmaler Grat, denn Betroffene neigen häufig dazu, es mit dem Sport zu übertreiben. Das Therapeutikum „Sport“ kann schnell selbst zur Sucht werden. Das Verhältnis zwischen Energiebedarf und Energiezufuhr kommt dann rasch unverhältnismäßig in Schieflage. Übertriebene körperliche bzw. sportliche Aktivität wird häufig nach einem Essanfall zur Kompensation der Kalorienaufnahme genutzt. Aber auch bei „normalem“ Essver- halten ist dies keine Seltenheit. Die dysfunktionale Kognition in Bezug auf den eigenen Körper, die Figur und das Gewicht treibt die Betroffenen wie besessen von einer inneren Stimme an, sich intensiv bis exzessiv sportlich zu bewegen. Ein weiterer Gesichtspunkt, der Sport schnell zur Sucht werden lässt, ist das Gefühl, durch Sport die Macht über den eigenen Körper wiederzuerlangen und selbst zu bestimmen. Diese Möglichkeit der Selbstbestimmung gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn man sich sportlich, beruflich oder sozial fremdbestimmt und gefangen in Zwängen fühlt. Sport erscheint in diesem Moment der Ausübung wie ein Befreiungsschlag
Dysfunktionale Kognition:
Denkfehler, bei denen aus der Erfahrung heraus die Zukunft vorweggenommen wird und daraus eine Vorgangsweise für ein Problem abgeleitet wird – was aber zu keiner sinnvollen Lösung des Problems führt. Solche Muster helfen zwar manchmal im Alltag, sich rasch zu entscheiden, und schützen vielleicht vor Fehlern, doch manchmal beruhen solche Annahmen bloß auf bequemen Überzeugungen, dass eine neue Aufgabe nur auf eine Weise bewältigbar ist. Dadurch werden andere Wege des Handelns blockiert.
Quelle: lexikon.stangl.eu
WAHRNEHMUNGSÜBUNG IN DER HALTUNGSSCHULUNG
- Wahrnehmung: Hände und Arme zur Seite öffnen wie die Blätter am Stiel einer Blume. Als Übung die Arme so weit öffnen, als trage man auf den Händen neben dem Kopf ein Tablett.
- Bild: Den Brustkorb in Verbindung mit dem Kopf als große Blüte einer Sonnenblume wahrnehmen. Den Toppunkt (höchster Punkt am Hinterkopf) nach oben spannen. Es entsteht das Gefühl, als würde der Nacken lang.
- Wahrnehmung: Der Kopf schwebt entspannt in Verlängerung der Wirbelsäule.
- Die Übungen fließend fühlen. Die Bewegungs- weite in der Vorstellungskraft mit dem „Erblühen einer Sonnenblume“ erspüren und optimieren. Dabei ein inneres Lächeln erstrahlen lassen und die entstehende positive Energie auftanken.
Sport als Therapie
Betroffene benötigen unbedingt fachmännische Unterstützung, Verständnis und geduldige Zuhörer. Verzweifelte Familienangehörige finden nur über Verständnis, Zuwendung und bedingungslose Liebe einen Zugang. Dabei kann es guttun, den Essgestörten zu sensibilisieren, sich einfach mal mit einem vertrauten Menschen ganz „normal“ und natürlich zu bewegen und dabei Einstellungen, Sichtweisen und Sinnfragen auszutauschen – egal ob Wald- oder Strandspaziergänge oder einfach um den eigenen Häuserblock gehen: Wichtig ist es, dies gemein- sam zu tun. Raus aus der Isolation und gemeinsam natürlichen Bewegungen nachgehen – ganz ohne Leistungsdruck und Wettkampfgedanken, auch sich selbst gegenüber. Zeit miteinander und füreinander haben, sich zusammen mit Menschen, die einem etwas bedeuten, natürlich bewegen. Betroffene benötigen Liebe, Akzeptanz, Verständnis und sollten gehört werden. Die geliebte Sportart gemeinsam in der Gruppe einfach mal nur um der Sportart willen ausüben, ohne Leistungsvergleich und Leistungsanspruch ist auch eine Option. Alternativsportarten zu der eigenen problematischen sportlichen Aktivität ausprobieren. Die Seele und den Körper in Bewegung „baumeln“ lassen und so das Körpergefühl positiv beeinflussen – dosiert, therapeutisch, zu zweit oder in der Gruppe, am besten mit Gleichaltrigen, vielseitig sportlich sein. Den Fokus auf Vielseitigkeit, Natürlichkeit und Glück lenken.
Besonders geeignet ist eine ganzheitliche Körperschulung in der Gruppe mit Musik. Haltung, Kraft, Kraftausdauer, Beweglichkeit und Koordination lassen sich als grundlegende Elemente nutzen, um die Wahrnehmung, das Körper- und Selbstwertgefühl sanft zu verbessern. Der dynamische Auf- bau eines harmonischen Muskelkorsetts und einer natürlichen, aufrechten Körperhaltung ist ein un- terstützender Inhalt, um aus sporttherapeutischer Sicht die Psyche und das Körpergefühl positiv zu beeinflussen. Die Verknüpfung von sanftem Haltungstraining und inspirierenden Bildern motivier nachhaltig und erleichtert es, ein positives Körper- und Selbstwertgefühl aufzubauen.
Und ein letzter Tipp: lachen, auch wenn einem nicht zum Lachen zumute ist. Denn dabei werden automatisch Glückshormone (Endorphine) ausgeschüttet, die den Betroffenen in diesem Moment für einen Augenblick glücklicher machen. Aus diesen Momenten kann man dann Energie schöpfen.
Eine Essstörung ist eine ernsthafte Erkrankung. Es handelt sich dabei nicht um ein Ernährungsproblem, sondern um den gestörten Umgang mit dem Thema „Essen“ und das Verhältnis zum eigenen Körper.
Fazit
Mit der äußeren Aufrichtung erfährt die Psyche eine innere „Aufrichtung“, denn Haltung modifiziert die innere Stimmung. Probleme können sich lösen, vielleicht sogar auflösen. Ergänzt man diese gezielte Körperarbeit durch einfache Entspannungsübungen und informiert in kurzen Workshops über eine natürliche, vitale Ernährung, kann man sportlich ganzheitlich therapieren. Das Ziel sollte sein, sich beim Sport wohlzufühlen, Spaß an der Bewegung zu haben, gemeinsam in der Gruppe positive Körpergefühle zu erleben und Akzeptanz in der Gruppe zu erfahren. Sich um die körperliche und psychische Gesundheit im Sport zu kümmern, ist der Fokus. So kann Sport bei Essstörungen helfen.